Enkeltrick für Anfänger

geld
Wird man zuerst mit Worten weichgekocht, rückt man das Geld ganz freiwillig raus.

Immer, wenn ich in der Zeitung von Enkeltrick-Diebstählen lese, versuche ich mir  die Geldübergabe-Situation vorzustellen. Seit heute weiss ich: Es kann jeden treffen – sogar mich.

„Hier. Nimm meine Ersparnisse. Ich kenne dich zwar nicht, aber da du ein Bekannter meiner Enkelin bist, die ein Restaurant eröffnen will, gebe ich dir hunderttausend Franken.“ Immer, wenn ich in der Zeitung von Enkeltrick-Diebstählen lese, versuche ich mir  die Geldübergabe-Situation vorzustellen. Aber: Wie kann man nur so naiv sein, einer wildfremden Person eine so grosse Summe Geld zu überreichen? Gemäss einem Artikel in der NZZ sind ältere Menschen nicht mehr in der Lage, die Gesichtszüge des Gegenübers zu interpretieren. Ein Gesicht, bei dem der Mund zwar lächelt, aber die Augen nicht, erscheint ihnen nicht als verdächtig.

Höhö, das könnte mir ja nie passieren, habe ich immer gedacht. Ich bin ja erstens noch nicht alt und zweitens mit einer sensationellen Menschenkenntnis ausgestattet. Heute aber passierte etwas Komisches. Ich lief gerade mit tief ins Gesicht gezogener Mütze – Maiwetterkapriolen sei dank – durch Bern Richtung Lorraine, als mich ein Inder ansprach und ganz nah an mich herantrat. „I must tell you something, lady, your aura is very special“. Wahrscheinlich hat er aus der Kombination von roter Mütze und Turn-Säckli auf einen Hang zu Esoterik geschlossen. Und mit dieser kleinen Schmeichelung sofort mein Interesse geweckt.

Danach folgte eine Mischung aus Aura-Deutung, Zukunftsvisionen und Blicke in die Tiefen meiner Seele. Das Erschreckende und Faszinierende daran war, dass er in vielem richtig lag: Er wusste, dass mir Reichtum nicht viel bedeutete (könnte mein Shabby-Look sein), ich manchmal zu viel nachdenke (könnte meine Stirnfalten sein), dass ich ein Mädchen und einen Jungen habe (Zufall?) und dass mein Mann jünger ist als ich. Er hatte mich am Haken.

Er bedeutete mir, ihm in den Park zu folgen, wo er das Gespräch fortsetzen wollte. Da ich ja über so gute Menschenkenntnisse verfüge, trottete ich mit. Dort sprachen wir weiter über den Sinn des Lebens und was mir am wichtigsten ist (meine Kinder) und er führte allerlei Beweise für seine übersinnlichen Kräfte ins Feld.

Obwohl ich ja genügend sozialen Kontakt habe, genoss ich es, dass sich jemand so intensiv mit mir beschäftigte und mir Glück und fast ewiges Leben versprach. In so Situationen sitzt die Brieftasche extrem locker. Denn wer will da schon knausrig sein. Unweigerlich kam nach all dem Gerede plötzlich das Thema Geld auf. Er zeigte er mir Kinderfotos von Waisenheimen in Indien und meinte, dass er „Donations“ brauche für die Waisenkinder. Ich war zwar total eingelullt von seinen Aura-Gesprächen, aber als ich die Wahl hatte zwischen 300 (wer nicht viel Geld hat), 500 (für durchschnittlich verdienende Leute) und 700 (für reiche Spender) dämmerte es mir, dass da etwas nicht ganz koscher war.

Er versprach mir, dass er und seine Yogis für meine Familie und mich beten und mein Lebenswunsch in Erfüllung gehen würde. Ich muss sagen, verlockend wars schon, einfach meine Seele freizukaufen. Wären die 300 Franken nicht etwas dreist gewesen, ich hätte sie auf der Stelle bezahlt. Zumal ich auch nicht wollte, dass mich oder meine Familie ein Fluch träfe. Um aus der Situation rauszukommen und doch irgendwie ein guter Mensch zu sein, drückte ich ihm „mickrige“ 50 Franken in die Hand und machte mich so rasch es ging vom Acker. Mit dem Entschluss, nie wieder über Leute zu lachen, die auf Trickbetrüger reinfallen. Denn bekommt man im falschen Moment genau das Richtige zu hören, wandert das Geld wie von alleine von einem Portemonnaie ins andere.

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